(Oktober 2023) Eva Groß, Stefanie Kemme (Hrsg.),  „Basislehrbuch Kriminologie"

Der Markt der Kriminologie-Publikationen ist um ein Werk reicher. Nachdem das Buch „Kriminologie: Für Studium und Praxis“ von den Autoren Horst Clages und Ines Zeitner vom Verlag Deutsche Polizeiliteratur (VDP), im Jahre 2019 aus dem Programm genommen wurde, fehlte im Sortiment des VDP ein entsprechendes Standardwerk zur kriminalwissenschaftlichen Disziplin der Kriminologie. Diese Lücke ist nun mit dem „Basislehrbuch Kriminologie“ geschlossen. Die beiden Herausgeberinnen, Professorin Dr. jur. Dipl. Psych. Stefanie Kemme und Professorin Dr. Eva Groß, besitzen zu dieser Thematik eine anerkannte Expertise. Stefanie Kemme war u. a. Juniorprofessorin für Strafrecht an der Fakultät für Rechtswissenschaft, Institut für Kriminalwissenschaften, an der Universität Hamburg. Von Juni 2015 bis März 2023 war sie als Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg tätig. Seit April 2023 lehrt und forscht sie als Professorin für Kriminologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Eva Groß ist seit Dezember 2018 an der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg tätig, davor wirkte sie seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität und seit 2015 an der kriminologischen Forschungsstelle des LKA Niedersachsen.

 

Das „Basislehrbuch Kriminologie“ möchte in 14 Kapiteln einen Überblick über den kriminologischen Forschungsstand unter besonderer Berücksichtigung des Blickwinkels der Polizei geben. Das ist durchaus bemerkenswert und ein Alleinstellungsmerkmal, weil andere kriminologische Publikationen auf dem Markt diese explizite Sichtweise nicht bieten. Die meisten kriminologischen Grundlagenwerke richten sich an Leserinnen und Leser mit einem rechtswissenschaftlichen oder soziologischen Background. Ebenso bemerkenswert an diesem Buch ist, dass die Beiträge von – insgesamt fünf – Autorinnen stammen, (männliche) Autoren sucht man vergeblich. Abgesehen davon, dass auch die übrigen Autorinnen über eine unzweifelhafte Expertise verfügen, verwundert dieser Aspekt nicht, denn Frauen sind in der Lehre und Forschung im Bereich der Kriminologie stark vertreten, aber als Autorinnen für kriminologische Standardwerke bisher deutlich unterrepräsentiert. Man fragt sich an dieser Stelle, warum das bisher so war?

 

Obwohl das Buch einen Umfang von insgesamt 486 Seiten hat, fühlt es sich beim Lesen nicht wie ein „dicker Wälzer“ an. Ein Fakt, den insbesondere die Studierenden und Auszubildenden schätzen dürften. Die einzelnen Kapitel sind relativ kompakt geschrieben, beinhalten aber grundsätzlich die spezifischen und wesentlichen Aspekte. Im ersten Teil des Buches werden – wie in anderen kriminologischen Basiswerken auch – die klassischen kriminologischen Themen, wie beispielsweise die Geschichte der Kriminologie, Kriminalitätstheorien, Viktimologie und Kriminalitätswahrnehmung, behandelt. Im zweiten Teil werden besondere Kriminalitätsfelder, wie Gewaltkriminalität, Sexualdelikte, Hasskriminalität und Kriminalität im Kontext von Migration, betrachtet. Zahlreiche Tabellen und Abbildungen dienen der Darstellung und dem besseren Verständnis. Am Anfang eines Kapitels finden sich jeweils die Lernziele in Form von Fragestellungen, am Schluss eines Kapitels erfolgt eine Zusammenfassung der wesentlichen Punkte als „Merkposten“. Die Autorinnen bemühen sich dabei, die Thematiken auf die Anforderungen des Polizeidienstes auszurichten und führen jeweils spezifische Fallbeispiele an, um den Praxisbezug zu verdeutlichen. Wer schon einmal das Vergnügen hatte, in einer polizeilichen Bildungseinrichtung Kriminologie zu unterrichten, dem ist bewusst, dass es nicht immer ganz einfach ist, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten und nachhaltig deutlich zu machen, wie wichtig die Kriminologie für Schutz- und Kriminalpolizisten und -polizistinnen ist. Gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Berufszufriedenheit, was Berufseinsteigenden meist nicht bewusst ist. Wer mehr zur Entstehung und den Erscheinungsformen von Kriminalität weiß und sich (und anderen) erklären kann, ist insgesamt zufriedener im Job und auch – ein gesamtgesellschaftlich betrachtet nicht ganz unwesentlicher Nebeneffekt – weniger anfällig für gefährliche rechte Tendenzen.

 

In der Gesamtbewertung muss man konstatieren, dass man genau das bekommt, was das Buch verspricht: ein Basislehrbuch der Kriminologie. Den Autorinnen ist es gelungen, ein modernes, leicht lesbares und verständliches Werk geschaffen zu haben. Ein Wermutstropfen, der den Gesamteindruck leider etwas trübt, ist der Umstand, dass das Buch trotz seines Umfangs im Teil 2 bei der Betrachtung besonderer Kriminalitätsfelder teilweise recht oberflächlich bleibt. Das ist für ein Basiswerk zwar nicht ungewöhnlich, denn ein Basislehrbuch will einen ersten Überblick verschaffen und diejenigen, die sich einer wissenschaftlichen Materie erstmalig nähern, dabei nicht gleich überfordern. Wenn man sich aber mit einzelnen Kriminalitätsphänomenen intensiver beschäftigen möchte, kommt man trotz der Verweise auf Links zu Online-Quellen am Ende jedes Kapitels nicht umhin, sich mit weitergehender Literatur – auch aus dem Bereich der Kriminalistik – auseinanderzusetzen. Besonders deutlich wird dieser Umstand im Kapitel 14 „Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität“, welches auf knapp 16 Seiten abgehandelt wird. Dem Kriminalitätsphänomen „Wirtschaftskriminalität“ werden dabei ganze zwei Seiten gewidmet. Hier gäbe es aus kriminologischer Sicht deutlich mehr darzustellen, gerade auch zum Thema Tätertypologien. Inhalt und Umfang mögen für die Ausbildung der Schutzpolizei des „mittleren Dienstes“ gerade noch ausreichend sein, für das Studium von Kommissaranwärtern und -anwärterinnen der Kriminalpolizei ist es aber deutlich zu wenig. Auch wenn man fairerweise anmerken muss, dass diese beiden Themenbereiche in den meisten Standardwerken recht stiefmütterlich behandelt werden, sollte das Kapitel für die nächste Auflage nochmals überarbeitet und ergänzt werden. 

 

Fazit: Man darf die Herausgeberinnen und Autorinnen zu ihrem Werk beglückwünschen. Das Basislehrbuch Kriminologie wird mit einiger Sicherheit das kriminologische Standardwerk für die Ausbildung und das Studium der Polizei werden. Auch wenn das Lehrbuch trotz der „Polizeiperspektive“ grundsätzlich für alle Einsteigenden geeignet ist, sich einen ersten Überblick über die wissenschaftliche Kriminologie zu verschaffen, ist für Interessierte außerhalb der Polizei andere Literatur, wie die empfehlenswerten Standardwerke „Kriminologie – Eine Grundlegung“ von Singelnstein/Kunz, „Kriminologie – Ein Grundriss“ von Dölling/Hermann/Laue und auch immer noch „Kriminologie und Kriminalpolitik“ von Schwind/Schwind, aber sicher passender.

 

Kemme, Stefanie/Groß, Eva (Hrsg.) (2023): „Basislehrbuch Kriminologie“, VDP, ISBN 978-3-8011-924-0, € 35,00


(November 2016) Jay Tuck, „Evolution ohne uns"

Jay Tuck ist Journalist, Fernsehproduzent und US-Verteidigungsexperte. Tuck hat 35 Jahre beim Deutschen Fernsehen als investigativer Reporter, Kriegskorrespondent und langjähriger Redaktionsleiter der ARD-Tagesthemen gearbeitet und ist Autor zahlreicher Berichte und Bücher über Spionage und Rüstungstechnik. In seinem neuen Werk „Evolution ohne uns - Wird künstliche Intelligenz uns töten?“ beschäftigt sich Tuck mit dem „nächsten großen Ding“ nach dem Internet of Things, mit der künstlichen Intelligenz, der KI, die mehr und mehr in unserem Alltag Einzug hält. Auf 336 recht kurzweiligen Seiten beschreibt Tuck die mittlerweile in unserem Alltag allgegenwärtige KI. Während die positiven Aspekte der KI für unsere Gesellschaft in diesem Buch eher nebensächlich behandelt werden, beschäftigt sich Tuck intensiv mit den drohenden, ja lebensgefährlichen Risiken der globalen Vernetzung für die Menschheit. Bei der Umsetzung vorprogrammierter Ziele könnte eine Computer-Intelligenz den Menschen als Störfaktor sehen und diesen beseitigen wollen. Tuck ist da in guter Gesellschaft und kann Stephen Hawking, Elon Musk, Steve Wozniak, Bill Gates und andere zitieren, die ebenfalls vor einer unkontrollierbaren KI warnen. Tuck schildert aus verschiedenen Blickwinkeln die Digitalisierung unserer Gesellschaft und die Bedeutung von Whistleblowern, berichtet über Big Data, vernetzten Häusern und Städten, digitalem Cyberkrieg mit intelligenten Robotersoldaten und von Spionen. Die Entwicklungen betrachtet Tuck mit spürbarem Fatalismus und einer gewissen Endzeitstimmung: „Wir sind zu doof dafür. Und deswegen werden wir die Bedrohung durch Künstliche Intelligenz wahrscheinlich erst erkennen, wenn es zu spät ist.“ Tuck beschäftigt sich mit Kriminalität und den Ermittlungsmöglichkeiten im digitalen Raum, aber auch mit den privaten Datenkraken und staatlicher Überwachung. Sein Fazit: „Unsere Vorstellung von einem Privatleben war ohnehin eine Illusion.“ Tuck schließt mit der Forderung, dass wir Mittel und Wege finden müssen, diese bereits entfesselte Superintelligenz wieder zu zähmen oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie uns nicht vernichtet.

„Evolution ohne uns“ ist kein IT-Fachbuch für Nerds, sondern für die breite Masse geschrieben, wodurch es einzelne Themenkomplexe leider nicht in der notwendigen Tiefe behandeln kann. Hauptsächlich soll es aber auf die drohenden Gefahren aufmerksam machen, die von einer ungezügelten KI ausgehen. Es soll Awareness erzeugen, damit wir Gegenmaßnahmen zu unserem Schutz einleiten können. Das Buch ist eine Leseempfehlung zur Sensibilisierung für dieses Thema, gerade für Polizisten, Juristen, Journalisten und Politiker sowie für all diejenigen, die sich noch nicht weiter mit KI und deren Risiken beschäftigt haben. 

 

Tuck, Jay (2016): „Evolution ohne uns - Wird künstliche Intelligenz uns töten?“, Plassen-Verlag, ISBN: 978-3-86470-401-7


(August 2016) Hans-Dieter Schwind, „Kriminologie und Kriminalpolitik“, 23. Auflage: Ein Denkmal gerät ins Wanken - Mit der neuesten Auflage hat sich der Autor keinen Gefallen getan

Normalerweise ist eine Rezension für „Den Schwind“ schnell geschrieben, schließlich wurde das Werk „Kriminologie - Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen“ schon kurze Zeit nach seinem Erscheinen 1986 zum Klassiker in der kriminologischen Ausbildung und im Studium für Juristen und Polizisten. Hatte das Werk in der 1. Auflage noch „schmale“ 372 Seiten, liegt nun aktuell die 23. Auflage mit mittlerweile 826 Seiten vor. Dass mehr nicht immer auch besser bedeutet, ist eine altbekannte Weisheit und trifft leider auch hier zu. Schon die Tatsache, dass der Titel des Buches nun in „Kriminologie und Kriminalpolitik“ geändert wurde, lässt erahnen, dass es dem Autor nicht mehr genügt, Verfasser eines Kriminologie-Kompendiums zu sein, was bedauerlich ist. Während einige Kapitel, wie die Beschäftigung mit der familiären und schulischen Werteerziehung, Weichenstellungen in Lebensläufen, kriminogen-relevante Freizeitgestaltungen, Gewaltphänomene und Präventionskonzepte als klassisch-kriminologische Themenbereiche eine notwendige Überarbeitung erfahren haben, beschäftigt sich der Verfasser intensiv und erstmalig mit der Zuwanderungsproblematik und überhebt sich damit maßlos. Schwinds persönliche Einstellung zu der Thematik wird schon auf der Titelseite deutlich, wo explizit darauf hingewiesen wird: „Flüchtlingskrise, ab Seite 711“. Nicht Zuwanderung oder Migration, nicht Problematik, nein: Krise. Nun kann man beim Thema Zuwanderung durchaus sehr differenzierter Meinung sein und auch politische Entscheidungsträger kritisieren, nur muss man sich so einem Thema in einem Fachbuch natürlich anders nähern als in einem Werk der Belletristik und wissenschaftliche Standardanforderungen beachten. Es reicht nicht aus, Presseschlagzeilen und -zitate, die die eigene Meinung unterstützen, nahtlos aneinanderzureihen, so wie es Schwind macht. Bemerkenswert hierbei ist, wie auffallend oft Schwind dabei Schlagzeilen der BILD-Zeitung zitiert. Aber auch seine eigenen Bewertungen lassen eine rote Linie erkennen, eine deutlich tendenziöse. Einer der Hauptgründe der „Flüchtlingswelle“ sei „Fehlleistungen der deutschen Politik“, „kriminelle Auffälligkeiten“ seien nicht unerwartet aufgetreten und fragt kurz darauf: „Könnte es sein, daß die vielen „Gutmenschen“ der Willkommenskultur, die sich zunächst selbstlos in den medialen Vordergrund spielten, später, wenn Deutschland mehr oder weniger ruiniert ist. bzw. die Integration mißlingt, behaupten: „Das haben wir nicht gewollt“!?“ „Es kann auch kaum überraschen“, dass die „Bedrohtheitsgefühle in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zunehmen“ und Asylbewerberunterkünfte angegriffen werden. Schwind arbeitet mit einer Vielzahl von unbestätigten Fakten und Halbwahrheiten, „Deutsche Mieter“ seien die Wohnungen gekündigt worden „um Flüchtlinge unterzubringen“, „In Stadteilen mit hohem Migrantenanteil nistet sich auch nicht selten Kriminalität ein“, die Zuwanderer hätten pauschal ihre „Pässe weggeworfen oder gefälscht“, benutzt an mehreren Stellen selber das Wort „Gutmenschen“ in bewusst diskreditierender Form, bezeichnet die Bundeskanzlerin als „seltsam unberührt und trotzig“  und wird an einigen Stellen deutlich rassistisch. Unter den Flüchtlingen befinden sich „über 70% junge Männer“, die „altersgemäße Bedürfnisse“ hätten. „Eine Rolle spielt, daß das Fernsehen tagtäglich zeigt, daß riesige Menschenmassen in einem offenbar nie endenden Strom unser Land quasi überfluten, und zwar illegal (ungebremst und unkontrolliert): viele Frauen mit Kopftüchern und Männer mit ungepflegten schwarzen Bärten.“ Schwind will Kriegsflüchtlinge vom Asylverfahren ausschließen, befürwortet „im Interesse des sozialen Friedens“ das Verbot auf Familiennachzugspielt und spielt bei der Frage der finanziellen Zuwendung für Flüchtlinge auch die Karte „Deutsche Armut vs. Zuwanderung“ aus: Jetzt fließe plötzlich das Geld, „bisher hat das Geld für die ärmeren Bundesbürger (Rentner, Wohnungslose, Sozialhilfe) gefehlt.“ 

Man reibt sich beim Lesen zwischendurch immer wieder die Augen und fragt sich, ob man hier tatsächlich eine Kriminologie-Fachbuch oder doch das neue Werk von Thilo Sarrazin in den Händen hält und stellt dann wenig später erstaunt fest, dass Schwind diesen tatsächlich mehrfach inhaltlich zustimmend zitiert. Schwind endet mit den Feststellungen, dass die EU-Osterweiterung ein Fehler gewesen sei, die Türkei nie ein Beitrittskandidat hätte werden dürfen und heute eigentlich schon zu viele Muslime in Deutschland leben würden. „Damit endet der Versuch einer (realistischen) Lagebeurteilung aus (kriminal-)polizeilicher Sicht“, so Schwind abschließend. Man muss Schwind aber leider attestieren, dass dieser Versuch gründlich danebengegangen ist und sogar das Zeug dazu hat, sein Lebenswerk zu diskreditieren. Hier hat jemand mit einer ihm unliebigen Zuwanderungspolitik abgerechnet, aber nicht wissenschaftlich fundiert, sondern im Stile eines „besorgten Bürgers“. Gab es im Verlag niemanden, der ihn auf diesen Umstand hingewiesen hat? Schwind wäre gut beraten, das Kapitel „Zuwanderung“ schnellstmöglich zu überarbeiten und so Schadensbegrenzung zu betreiben. Die 23. Auflage seines Werks kann man jedenfalls nur noch eingeschränkt empfehlen. Ein Denkmal demontiert sich selbst, sehr schade.